Dr. Amoret Whitaker – Insekten am Tatort
Ein älterer Mann reagiert nicht mehr auf Anrufe oder Besucher. Ein fauliger Geruch und das entfernte Summen von Fliegen dringen aus seiner Wohnung und veranlassen die Nachbarn, die Polizei zu verständigen. In der Wohnung entdecken sie eine mit Larven übersäte Leiche. Welche Expertin wird in diesem Fall hinzugezogen? Dr. Amoret Whitaker, die forensische Entomologin.

Dr. Amoret Whitaker hält eine Petrischale mit Larven von Schmeissfliegen in der Hand. Bild: © Dr. Martin Hall
Wer ist Dr. Amoret Whitaker
Dr. Amoret Whitaker ist eine führende forensische Entomologin im Vereinigten Königreich und spezialisiert darauf, Insektenbeweise zur Aufklärung von Verbrechen einzusetzen. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Natural History Museum (NHM) in London, arbeitete mit der Body Farm* (University of Tennessee Anthropological Research Facility) zusammen und ist Senior Lecturer in Forensic Investigation an der University of Winchester, wo sie forensische Ökologie, Medizin, Bildgebung und Beweisführung lehrt.
Amoret studierte Zoologie an der Universität und träumte davon, Gorillas oder Eisbären zu retten. Nachdem sie jedoch Insekten unter dem Mikroskop betrachtet hatte, entwickelte sich eine Faszination für diese Lebewesen, die letztlich ihre Karriere prägte. Nach ihrem Masterstudium am NHM in London begann sie, mit Flöhen – ihren Lieblingsorganismen – zu arbeiten, was unerwartete Möglichkeiten eröffnete. Da die Floh- und Fliegensammlungen im NHM zusammen untergebracht sind, fragte sie einen ihrer Kollegen aus der Fliegenforschung, ob er bereit wäre, ihre Doktorarbeit über Schmeissfliegen zu betreuen. So begann ihr Weg in die forensische Entomologie. Ein entscheidender Moment kam, als sie bei einem Fall für ihren Vorgesetzten einspringen musste, der zu diesem Zeitpunkt nicht verfügbar war. Rückblickend führt sie ihre vertiefte Auseinandersetzung mit der forensischen Entomologie darauf zurück, dass sie „die sich bietenden Gelegenheiten bestmöglich genutzt“ hat.

Nicht häufig in der forensisichen Entomologie genutzt, aber immer noch Amorets Lieblingsorganismus. Ihre Expertise über Flöhe trug einst dazu bei, einen Fall zu lösen. Bild: Adobe Stock
Schon gewusst?
Der früheste dokumentierte Einsatz von Insektenbeweisen zur Aufklärung eines Verbrechens geht auf das China des 13. Jahrhunderts zurück und ist in einem chinesischen Lehrbuch über strafrechtliche Ermittlungen dokumentiert. In einem Mordfall, der sich in der Nähe eines Reisfeldes ereignet hatte, wurde angenommen, dass das Opfer mit einer Sichel getötet worden war. Aber wie kann man feststellen, welche Sichel benutzt wurde?
Die Wahrheit kam ans Licht, als die Verdächtigen gebeten wurden, ihre Sicheln abzulegen. Während alle Werkzeuge mit blossem Auge sauber aussahen, zog eines schnell Schwärme von Schmeissfliegen an, die unsichtbare Blutspuren entdeckten und somit den Besitzer entlarvten, der kurz darauf gestand.
Schmeissfliegen – Der Goldstandard in der forensischen Entomologie
Schmeissfliegen gehören zu den ersten Insekten, die eine Leiche besiedeln, und sind unter den richtigen Bedingungen oft innerhalb von Minuten da. Dies ist auf ihr nekrophages Verhalten zurückzuführen – sie ernähren sich von verwesender tierischer Biomasse. Um Eier zu produzieren, benötigen die Weibchen eine Proteinquelle, und ihr hochentwickeltes Geruchssystem ist besonders empfindlich auf den Geruch von Verwesung.

Schmeissfliegen (Lucilia caesar, Calliphoridae) werden häufig in der Forensik eingesetzt, um die minimale Zeit seit dem Tod abzuschätzen. Bild:Adobe Stock
An einem Tatort suchen sie in der Regel die Gesichtsöffnungen (Ohren, Nase, Mund und Augen) auf, da das Gewebe dort weich und feucht ist, sowie geschützte Bereiche wie den Haaransatz und Körperteile, die eine Oberfläche berühren. Sobald die Eier abgelegt sind, beginnt die „Uhr“ zu ticken, denn die Larven schlüpfen und entwickeln sich, während sie sich vom verwesenden Material ernähren. Dank umfangreicher Forschungen an Schmeissfliegen können Wissenschaftler anhand der Larvenentwicklung das minimale Post-Mortem-Intervall (minPMI; Zeit, die seit dem Tod vergangen ist) mit bemerkenswerter Genauigkeit abschätzen.
Schmeissfliegen als primäre Besiedler liefern die genauesten Schätzungen des minPMI. Sekundäre und tertiäre Besiedler, die im Rahmen der Insektenabfolge während des Verwesungsprozesses auftreten, können jedoch ebenfalls eine Schätzung des minPMI ermöglichen – wenn auch weniger präzise – oder Hinweise auf saisonale Aktivität geben.
Sekundäre Besiedler sind in der Regel Fleischfliegen und Stubenfliegen, wobei letztere häufiger bei Todesfällen in Innenräumen anzutreffen sind. Mit fortschreitender Verwesung verändert sich das Geruchsprofil des Körpers, wodurch Raubinsekten wie Wespen und Käfer angezogen werden, die sich von den Fliegenlarven ernähren.
Ungebetene Gäste
Die Anwesenheit bestimmter Insektenarten an einem Tatort kann unschätzbare Hinweise liefern. Manche Insekten können beispielsweise aufzeigen, ob eine Leiche bewegt oder gestört wurde. Wenn etwa Insekten, die normalerweise nur in Aussenbereichen vorkommen, auf einer in einem Innenraum gefundenen Leiche entdeckt werden, könnte dies darauf hindeuten, dass die Leiche ursprünglich im Freien lag und nach dem Tod bewegt wurde.
Forensische Entomologen können zudem die Zusammensetzung der Insektenarten und deren Entwicklungsstadien analysieren, um festzustellen, ob diese mit der erwarteten Fauna des Fundorts übereinstimmen. Saisonale Schwankungen der Insektenaktivität sowie das Vorhandensein oder Fehlen bestimmter in der Region heimischer Insekten können weitere Hinweise auf den ursprünglichen Ort der Verwesung liefern.
Andere Insekten können dazu beitragen, festzustellen, ob ein Tod natürlichen Ursprungs oder ein Mord war. So können beispielsweise Spuren, die für menschlich verursachte Verletzungen gehalten werden, tatsächlich von Ameisen stammen, die mit ihren Mandibeln Abdrücke hinterliessen, während sie sich vom Körper ernährten. Aaskäfer, Speckkäfer, Buntkäfer, Milben und Läuse sind weitere Gliederfüsser, die häufig an Tatorten gefunden werden. Auch wenn sie nicht so oft wie Schmeissfliegen zur Bestimmung des minPMI herangezogen werden, liefern sie dennoch wichtige Einblicke und helfen Ermittlerinnen, die Ereignisse zu rekonstruieren.
Forensische Entomologen weltweit verlassen sich stark auf Schmeissfliegen, aber auch andere Insektenarten kommen in verschiedenen Regionen der Welt zum Einsatz. So ist Phormia regina die vorherrschende Art in Nordamerika, während in Australien Calliphora dubia dominiert. Diese Arten besetzen die gleiche ökologische Nische wie die im Vereinigten Königreich verbreiteten Schmeissfliegenarten, etwa Calliphora vicina.
Die Rolle einer forensischen Entomologin

Amoret (auf den Knien) durchsucht den Boden der Ablagestelle nach Insekten, die ihre Nahrungsaufnahme an der Leiche beendet haben und nun nach einem geeigneten Ort für die Verpuppung* suchen. Diese Larven sind älter als jene, die noch an der Leiche fressen, und können daher eine genauere Schätzung des minPMI ermöglichen. Bild: © Dr. Martin Hall.
Werkzeugkoffer
Wenn Amoret zu einem Tatort gerufen wird, bringt sie eine Reihe spezieller Utensilien mit: Pinzetten, Probenröhrchen, Ethanol – und frisch abgekochtes Wasser. Das Wasser ist nicht für Tee gedacht, sondern dient der schnellen Tötung von Larven, um die Proben für präzise Messungen im Labor zu konservieren.
Die Messung der Umgebungstemperatur und der Temperatur der Larvenmasse ist entscheidend, da die Entwicklungsraten von Insekten direkt von der Temperatur abhängen. Daher sind ein Datenlogger und ein Thermometer unverzichtbare Werkzeuge im Kit eines forensischen Entomologen.
Und warum bringt man Katzenfutter zu einem Tatort? Nicht um Katzen, sondern um die Larven zu füttern, damit sie sich bis zum Erwachsenenstadium entwickeln können. Da die Identifizierung von Fliegenlarven schwierig ist, nehmen forensische Entomologen oft einige Larven mit ins Labor, um sie bis zum Adultstadium aufzuziehen, was eine präzise Bestimmung der Art ermöglicht.
Der Teufel steckt im Detail
Wie bereits erwähnt, ist die Umgebungstemperatur ein entscheidender Parameter an einem Tatort. Je wärmer es ist, desto schneller entwickeln sich die Larven. Forensische Entomologen müssen Temperaturschwankungen aufgrund von Wetterbedingungen, Tageszeit und anderen Faktoren berücksichtigen, um den Zeitpunkt der Kolonisierung der Leiche durch Insekten abzuschätzen.
Während ein Amateur sich vielleicht nur auf Insekten konzentriert, die auf einer Leiche krabbeln, weiss eine erfahrenere forensische Entomologin, dass sie über das Offensichtliche hinaus suchen muss. Schmeissfliegenlarven zum Beispiel ernähren sich von der Leiche, verlassen sie jedoch schliesslich, um sich an versteckten Orten zu verpuppen. Die ältesten Insekten zu finden, ist entscheidend, da sie anzeigen, wie lange die Leiche bereits dort lag, und den minimalen – nicht den genauen – Zeitraum seit dem Tod liefern. Das Verständnis der Biologie der Arten hilft den Entomologen vorherzusagen, wo Larven sich verstecken könnten, etwa unter Türen, in Steckdosen oder sogar in benachbarten Gebäuden. Wie Amoret es ausdrückt: „Man muss wie eine Schmeissfliege denken“, eine Fähigkeit, die sie sich durch jahrelange Erfahrung angeeignet hat.
Bei Tatorten in Innenräumen ist es entscheidend, den Zustand des Gebäudes zu beurteilen. War die Tür geschlossen? Waren die Fenster versiegelt oder geöffnet? Gab es Müll, der Insekten anlockte? Solche Details können wichtige Einblicke in die Umstände des Verbrechens liefern.
Molekulare Biologie und forensische Entomologie
Der Einsatz molekularer Werkzeuge hat neue Möglichkeiten in der forensischen Wissenschaft eröffnet, obwohl einige Anwendungen noch in der Entwicklung sind. In der forensischen Entomologie zeigt die DNA-Technologie Potenzial, um Variationen in Insektenpopulationen zu untersuchen, doch diese Methoden werden noch nicht weit verbreitet eingesetzt. Amoret betont, dass traditionelle Ansätze, wie das Aufziehen und Identifizieren von Insekten durch entomologische Fachpersonen, weiterhin einfacher, kostengünstiger und für viele Untersuchungen äusserst zuverlässig sind.
Sie hebt auch die Zugänglichkeit der Insektenanalyse hervor – sie erfordert keine hochentwickelten Einrichtungen, was sie auch in Entwicklungsländern praktikabel macht. Während molekulare Fortschritte wertvoll sind, glaubt Amoret, dass sie eine Ergänzung und kein Ersatz für die traditionellen Methoden der forensischen Entomologie darstellen. Bemerkenswerterweise können Spezialisten sogar menschliche DNA aus Insekten extrahieren, die sich vom Körper eines Verstorbenen ernährt haben, was Hinweise liefern kann, um den Verstorbenen oder den Täter zu identifizieren – wie in einem Fall, in dem eine Larve im Kofferraum eines Verdächtigen gefunden wurde.
Mücken helfen der Polizei, Morde zu lösen
Mücken und ihr Verhalten am Tatort können ebenfalls entscheidende Beweise liefern, wenn sie sorgfältig untersucht werden. In einem Mordfall, bei dem eine Leiche in der Nähe eines Strandes gefunden wurde, analysierten Ermittler einen Blutfleck, den eine Mücke an einer Wand im Haus eines Verdächtigen hinterlassen hatte. DNA-Sequenzierung zeigte, dass das von der Mücke aufgenommene Blut mit dem des Opfers übereinstimmte, was bestätigte, dass das Opfer sich in diesem Raum aufgehalten hatte. Diese Entdeckung, zusammen mit anderen Beweisen wie Kleidung mit winzigen Blattfragmenten und leicht verschmutzten Turnschuhen, deutete darauf hin, dass die Leiche nach dem Mord im Raum an den Strand transportiert worden war.
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Abschliessende Bemerkungen zur forensischen Entomologie
Amoret betont die Lücken im grundlegenden Wissen über die Entwicklung vieler Schmeissfliegenarten und anderer Insekten, die für forensische Untersuchungen von Bedeutung sind, und unterstreicht den Bedarf an mehr Forschung. „Die forensische Entomologie hat das Potenzial, viel mehr beizutragen“, sagt sie, „aber es gibt einfach nicht genug Experten auf diesem Gebiet.“ Oft werden Entomologen erst zu einem Tatort gerufen, wenn es bereits zu spät ist, was zu verlorenen Beweisen und verpassten Chancen führt, entscheidende Informationen zu sammeln.
Aus ihrer Sicht ist ein solides Fundament in Entomologie unerlässlich für alle, die in diesem Bereich tätig werden möchten. Sie rät Forensikstudierenden ein Masterstudium in Entomologie zu absolvieren, um das notwendige Fachwissen zu erlangen. Da immer mehr Studierende in diesem Bereich tätig werden, könnte es im Vereinigten Königreich genügend ausgebildete Spezialisten geben, die schnell auf Tatorte reagieren und das Potenzial der forensischen Entomologie voll ausschöpfen können.
Zum Abschluss lädt Amoret uns ein, darüber nachzudenken: Welche anderen Wissenschaften könnten bei der Lösung von Verbrechen helfen? Bereiche wie die forensische Botanik, die Pflanzenbeweise untersucht, oder aquatische Wirbellose, die bei in Gewässern gefundenen Leichen noch wenig genutzt werden, sind nur einige Beispiele für weitere ökologische Spezialgebiete. Auch Pollen, Wetterdaten oder Skelettreste können wichtige Hinweise liefern. Welche anderen Fachrichtungen könnten Ihrer Meinung nach helfen, einen Fall zu lösen?
Glossar*
Body Farm: Eine Forschungseinrichtung, in der der Verwesungsprozess von menschlichen und tierischen Körpern unter verschiedenen Umweltbedingungen untersucht wird. Die Body Farm an der University of Tennessee (auch bekannt als die University of Tennessee Anthropological Research Facility oder Forensic Anthropology Facility) war die erste ihrer Art, die eingerichtet wurde.
Verpuppung: Prozess, bei dem sich eine Larve in eine Puppe verwandelt. Bei vielen Fliegenarten findet die Verpuppung innerhalb der letzten Larvenhaut statt, die sich verhärtet und als Puparium bezeichnet wird. Diese schützende Hülle schützt die Puppe vor äusseren Einflüssen, ähnlich wie ein Kokon.
Quellen
Spitaleri S et al. 2006. Genotyping of human DNA recovered from mosquitoes found on a crime scene. International Congress Series 1288:574-576. https://doi.org/10.1016/j.ics.2005.11.055
Hadley D. 2020. Early History of Forensic Entomology, 1300-1900. https://www.thoughtco.com/forensic-entomology-early-history-1300-1901-1968325