Stabheuschrecken – Meisterinnen der Tarnung
Mit ihrer an Pflanzen erinnernden Erscheinung und wie Zweige im Wind hin und her schwankend fügen sich Stabheuschrecken nahtlos in ihre Umgebung ein. Von samenähnlichen Eiern bis hin zu Abwehrspray und Flucht im Zickzack – diese Insekten verfügen über beeindruckende Überlebensstrategien.

Eine adulte weibliche Stabheuschrecke der Gattung Anatispinosa Cliquennois, 2023 auf einem Blatt von Garcinia verrucosa. Bild: © Francesca Ferrari
Steckbrief
- Männliche Stabheuschrecken sind in der Regel kleiner als die Weibchen und weisen eine deutlich andere Körperform und Färbung auf. Infolgedessen wurden Männchen und Weibchen derselben Art oft fälschlicherweise verschiedenen Arten oder sogar verschiedenen Familien zugeordnet.
- Die Ordnung der Phasmiden umfasst einige der grössten Insektenarten der Welt, wobei adulte Exemplare mit einer Länge von 20 bis 30 cm relativ häufig vorkommen.
- Im Durchschnitt sind adulte Stabheuschrecken zwischen 6 und 10 cm lang und nur selten kleiner als 4 cm.
- Stabheuschrecken kommen auf allen Kontinenten vor, sind jedoch hauptsächlich in tropischen und subtropischen Regionen verbreitet.
Systematik
- Reich
- Tiere (Animalia)
- Stamm
- Gliederfüsser (Arthropoda)
- Klasse
- Insekten (Insecta)
- Ordnung
- Phasmiden (Phasmatodea)
- Familie
- Gattung
- Art
Lebenszyklus
Phasmiden durchlaufen eine unvollständige Metamorphose, bei der sie über mehrere Nymphenstadien zur, körperlich ähnlichen, adulten Form heranwachsen. Stabheuschrecken häuten sich typischerweise vier- bis achtmal. Weibchen häuten sich aufgrund ihres grösseren Körpers oft einmal häufiger als Männchen.
Stabheuschrecken vermehren sich überwiegend sexuell, indem das Männchen während der Paarung eine Spermatophore (ein Samenpaket) auf das Weibchen überträgt. Zusätzlich ist bei weiblichen Phasmiden Parthenogenese (asexuelle Fortpflanzung) sehr verbreitet. Etwa 1.2% aller Phasmatodea-Arten reproduzieren sich ausschliesslich durch Parthenogenese.
Eier aus sexueller Fortpflanzung führen zu männlichen und weiblichen Nachkommen, während Eier aus asexueller Fortpflanzung nur weibliche Nachkommen erzeugen. Bei einigen Arten überwiegen Weibchen daher stark, bis hin zu Fällen, in denen die Männchen noch nicht klassifiziert wurden. Trifft ein Männchen auf ein Weibchen derselben Art, wird häufig Paarung beobachtet: Das Männchen klettert schnell auf das Weibchen und nimmt die Paarungsposition ein, in der es Stunden oder Tage verweilen kann, während es vom Weibchen umhergetragen wird.
All-you-can-leaf-Buffet
Stabheuschrecken sind strikte Veganer und knabbern mit ihren Kiefern an Blättern. Sie haben sich eng mit Blütenpflanzen mitentwickelt, die sie sowohl als Nahrung als auch als Schutz vor Vögeln und Fledermäusen nutzen. Studien zeigen eine grosse Bandbreite an Nahrungsvorlieben. Die meisten Stabheuschrecken sind an wenige Pflanzenarten angepasst. Einige Arten sind extrem wählerisch und fressen nur eine einzige Pflanzenart, während andere flexibler sind und bis zu 37 Pflanzenarten in ihre Ernährung einbeziehen.

Ein männliches Exemplar der Gattung Antongilia Redtenbacher, 1906 knabbert an einem Blatt von Dichaetanthera cordifolia. Bild: © Francesca Ferrari
Eier zur Identifikation
Eier gehören zu den spezifischsten Taxon*-Merkmalen bei Insekten. Die Untersuchung der Form und anderer Eigenschaften von Phasmatodea-Eiern ist besonders wichtig, da sie eine Vielfalt aufweisen, die bei anderen Insektengruppen nicht zu finden ist. Kürzlich wurde entdeckt, dass einige harte, samenähnliche Eier bestimmter Phasmidenarten mehrere Monate im Salzwasser überleben können. Diese Eigenschaft könnte die Verbreitung und beispielsweise die Erstbesiedlung Madagaskars erleichtert haben. Einige Arten kleben ihre Eier an Zweige und Blätter.
Die meisten Stabheuschrecken-Eier lassen sich in vier Haupttypen einteilen:
1. Kugelförmige Eier, die leicht vergraben werden können.
2. Eier mit dornartigen Auswüchsen, die Pflanzenteile durchbohren und das Ei fixieren.
3. Klebrige Eier, die auf einem Substrat haften.
4. Capitulum-Eier (40% der Arten), die lose abgelegt werden. Ein Capitulum ist ein kleiner fetthaltiger Anhang auf der Oberfläche des Eies, der Ameisen als Nahrung dient. Diese tragen die Eier in ihre Nester, wo sie vor Feinden geschützt sind und ideale Bedingungen zum Schlüpfen finden.

Ein Ei (Länge 4 mm) einer Stabheuschrecke der Gattung Leiophasma Uvarov, 1940. Der orange Anhang auf der rechten Seite ist vermutlich ein Capitulum, wobei dies noch bestätigt werden muss. Bild: © Francesca Ferrari
Überlebensstrategien
Madagassische Stabheuschrecken sind tagsüber schwer zu finden, da sie sehr gut getarnt und nachtaktiv sind. Um nicht entdeckt zu werden, bewegen sie sich hauptsächlich nachts auf der Suche nach Nahrung oder Paarungspartnern. Doch auch in der Nacht sind sie Raubtieren wie Vögeln, Reptilien, Spinnen, Nagetieren und Fledermäusen ausgesetzt.
Stabheuschrecken nutzen verschiedene effektive Mimikry*-Techniken: Sie liegen auf toten Blättern am Boden, pressen sich an Äste oder Baumstämme (oft mit Moos bedeckt) oder bleiben auf oder unter Pflanzenblättern. Ihre eigenartigen Bewegungen haben sich entwickelt, um ihre Tarnung zu unterstützen. Die meiste Zeit über bleiben Stabheuschrecken bewegungslos, besonders tagsüber. Wenn sie sich bewegen müssen, gehen sie oft mit einer schwankenden Bewegung, die an einen vom Wind bewegten Zweig erinnert.
Trotz ihrer Tarnung können Stabheuschrecken von Feinden entdeckt werden. In solchen Fällen setzen sie je nach Art auf zwei Verteidigungsstrategien: Schreckstarre (Thanatose) oder „Erschrecken und Fliehen“. Bei der Schreckstarre verharren sie komplett reglos, selbst wenn sie berührt werden, und lassen sich meist in die Vegetation fallen, um unbemerkt zu entkommen. Beim „Erschrecken und Fliehen“ sprühen sie zunächst eine ungefährliche, aber rot färbende Flüssigkeit aus ihren Abwehrdrüsen oder breiten ihre Flügel aus, oft begleitet von lauten Geräuschen (Abwehrstridulation). Danach flüchten sie schnell in die Vegetation, meist im Zickzack, um den Feind zu verwirren.
Klicken Sie hier, um mehr über Francescas Stabheuschrecken-Expedition nach Madagaskar zu erfahren.
*Glossar
Mimikry: ein weit verbreitetes Phänomen in der Natur. Manche Tiere und Pflanzen ahmen visuelle, akustische oder olfaktorische Signale anderer Arten nach und senden so eine „falsche Botschaft“. Der Imitator profitiert, indem er den Empfänger des Signals täuscht.
Taxon (Plural: Taxa): eine Gruppe von Organismen, die in der biologischen Systematik aufgrund gemeinsamer Merkmale zusammengefasst werden. Es kann verschiedene Hierarchieebenen umfassen, wie Art, Gattung oder Familie. Taxa dienen dazu, die Vielfalt des Lebens zu ordnen und evolutionäre Beziehungen zwischen Organismen darzustellen.
Quellen
Brock PD et al. Phasmida Species File Online http://phasmida.archive.speciesfile.org/HomePage/Phasmida/HomePage.aspx Accessed 5.7.2023
Bradler S. 2015. Der Phasmatodea Tree of Life: Überraschendes und Ungeklärtes in der Stabschrecken-Evolution. Entomologie heute 27: 1-23 https://www.zobodat.at/pdf/Entomologie-heute_27_0001-0023.pdf Accessed 5.6.2023.
Ragge DR 2009. The wing-venation of the order Phasmida. Transactions of
the Royal Entomological Society of London 106;9:37592. https://doi.org/10.1111/j.1365-2311.1955.tb01272.x
Bradler S et al.2015. Single origin of the mascarene stick insects:
Ancient radiation on sunken islands? BMC Evolutionary Biology 15;196 https://doi.org/10.1186/s12862-015-0478-y
Gonçalo Soutinho J et al. 2018. When camouflage fails: Predation of a huntsman spider Damastes sp. (Araneae: Sparassidae) on a stick insect Antongilia sp. (Phasmatodea: Bacillidae: Antongiliinae) from Madagascar. Acta Arachnologica 67;1: 31–33
https://doi.org/10.2476/asjaa.67.31
Goodman SM et al. Eds. 2022. The New Natural History of Madagascar, Princeton University Press. isbn: 978-0-691-22940-9 978-0-691-22262-2. https://doi.org/10.2307/j.ctv2ks6tbb