Stürme fördern die Insektenvielfalt im Wald
Langjährige Untersuchungen nach den Grossstürmen Vivian und Lothar zeigen, dass die meisten Insekten und andere Gliederfüsser von solchen Störungen nachhaltig profitieren. Speziell für totholzbewohnende und gefährdete Arten sind ungeräumte Sturmflächen sehr wertvoll.

Windwurffläche bei Zürich zwei Monate nach dem Sturm Lothar. Bild: © Beat Wermelinger
Vom Sturm entwurzelte und gebrochene Bäume (sogenannter Windwurf), kreuz und quer liegende Stämme, verbarrikadierte Strassen und Wege – für uns ein schlimmer Anblick. Die Natur sieht dies anders. Jahrzehntelange Untersuchungen von Wirbellosen auf verschiedenen Sturmflächen in der Schweiz haben gezeigt, dass die Natur an solche Ereignisse gut angepasst ist und die Zahl an Insekten- und Spinnenarten in solchen Windwürfen deutlich höher ist als im intakten Wald.
Normalerweise wird das liegende Holz nach einem Sturm so schnell wie möglich geerntet. Dies führt im Vergleich zu unberührten Sturmflächen zu einer Veränderung der Artengemeinschaften der Gliederfüsser. Ein Mosaik von geräumten und nicht-geräumten Flächen fördert die Artenvielfalt deshalb am meisten.

Der Immenkäfer (Trichodes apiarius) und der Gold-Rosenkäfer (Cetonia aurata) wurden fast ausschliesslich auf den offenen Sturmflächen gefunden. Bild: © Beat Wermelinger © Beat Wermelinger
Die "Katastrophe" Sturm
Naturkatastrophen haben für den Menschen meistens negative ökonomische und soziale Folgen. Ein Windwurf in einem Wald kann den Holzertrag, die Waldplanung oder die Schutzwirkung empfindlich beeinträchtigen. Für die Natur ist eine solche ökologische Störung ein normales Ereignis in der natürlichen Walddynamik. Dies machte die Waldforschung nach den beiden Stürmen Vivian (1990) und Lothar (1999) deutlich.
Üblicherweise wird das Sturmholz möglichst schnell entfernt, um einem Befall durch Borkenkäfer vorzubeugen und die Flächen für eine Neubepflanzung zugänglich zu machen. Allerdings war weitgehend unbekannt, welche ökologischen Folgen dies für die auf diesen Windwurfflächen lebenden Insekten hat. An der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) entstand deshalb ein Projekt, das die längerfristige Entwicklung der Insektenfauna auf ungeräumten Sturmflächen mit derjenigen auf traditionell geräumten Flächen und im intakt gebliebenen Wald verglich.
Was genau wurde untersucht?
Während der ersten zwei Jahrzehnte nach den jeweiligen Stürmen stellten die Forschenden in drei Vivian-betroffenen Gebieten der Alpen und drei Lothar-geschädigten Standorten des Mittellandes in vergleichbaren Jahresabständen unterschiedliche Insektenfallen auf. Diese wurden während der ganzen Vegetationsperiode regelmässig geleert und die gefangenen Insekten, Spinnen und Asseln bestimmt und gezählt.

20 Jahre nach dem Sturm Lothar ist bereits wieder ein dichter Wald entstanden. Die Bodenfalle (Mitte hinten) fängt an der Bodenoberfläche aktive Arten und die Kombifalle (rechts vorne) flugfähige und speziell pflanzenbestäubende Insekten. Bild: © Beat Wermelinger
Wie wirkt sich ein Sturm auf die Insektenzahlen aus?
Insgesamt flossen über 500 000 Individuen von mehr als 1600 Arten in die Analysen ein. Auf den Sturmflächen fanden sich 50% mehr Arten als im intakten Vergleichswald. Dies gilt für ganz verschiedene funktionelle Gruppen wie Pflanzenfresser, Holzbewohner, sich von totem Material ernährende Tiere, Bestäuber oder räuberische Arten. Auch seltene und gefährdete Arten profitieren stark von den neuen Lebensräumen. Allerdings sind auf den Sturmflächen auch Borkenkäferarten mit Schadenpotenzial häufiger.

Beispiel eines wöchentlichen Fangs einer Kombifalle mit einigen Käfern, Wanzen und Wespen. Bild: © Beat Wermelinger
Welche Folgen hat die Holzräumung?
Das Ernten der geworfenen Stämme (Wurzeln und kleines Astmaterial bleiben meist vor Ort) bedeutet einerseits eine mechanische Bodenbelastung und anderseits den Entzug von Lebensraum (Totholz). Allein bei den Käfern sind über 1500 Arten auf totes Holz angewiesen. Deshalb sind die holzbewohnenden Insekten auf den ungeräumten Flächen deutlich häufiger als auf den geräumten Sturmflächen. Insgesamt leben in den beiden Räumungsvarianten ungefähr gleich viele Insektenarten, aber in unterschiedlicher Zusammensetzung. In der Untersuchung waren bis zu 20% aller Arten nur auf jenen Flächen zu finden, auf denen das Holz liegengelassen wurde. Umgekehrt kamen auch etwa 10% der Arten exklusiv auf geräumten Flächen vor. Dies bedeutet, dass beide Windwurf-Lebensräume für die Artenvielfalt wertvoll sind. Spezialisten, die nur im intakten Wald vorkamen, machten nur etwa 6% aller gefundenen Arten aus.

Die Gehörnte Mauerbiene (Osmia cornuta) wurde nur auf nicht-geräumten Sturmflächen gefunden. Bild: © Beat Wermelinger
Mit dem Alter immer wertvoller
Der zahlenmässige Höhepunkt der Arten- und Individuenzahlen stellt sich zwei bis vier Jahre nach einem Sturm ein. Danach beginnen bereits die Pioniergehölze zu wachsen und der Lebensraum wird allmählich wieder schattiger. Als Folge davon nimmt vor allem die Häufigkeit der Insekten wieder deutlich ab, während ihre Artenzahlen aber noch längere Zeit hoch bleiben. Vor allem die gefährdeten, holzbewohnenden Arten profitieren auf den ungeräumten Sturmflächen vom grossen Angebot an langsam morsch werdendem Holz. Dicke, vermodernde Stämme sind in den meisten Schweizer Wäldern ein seltenes Substrat, jedoch ein wichtiger Lebensraum für viele gefährdete Organismen.

Der Grosse Zangenbock (Rhagium sycophanta), eine auf Lothar-Sturmflächen gefundene holzbewohnende Art der Roten Liste. Bild: © Beat Wermelinger
Die Rückkehr zur "Waldfauna"
Die natürliche Wiederbewaldung und damit die Rückkehr der Windwurffauna zum typischen Artenspektrum eines geschlossenen Waldes hängt stark von der Höhenlage ab. In den voralpinen Lagen der Vivian-Sturmflächen begann sich die Artenzusammensetzung der Insekten, Spinnen und Asseln erst nach 10 Jahren wieder langsam derjenigen der Waldfauna anzunähern. Nach 20 Jahren lag die Ähnlichkeit aber erst bei 30%. Im Gegensatz dazu näherte sich die Zusammensetzung der Insektenarten auf den Lothar-Sturmflächen von Beginn weg derjenigen des intakten Waldes an und hatte nach 20 Jahren bereits eine Ähnlichkeit von 50%. Temperaturbedingt und auch wegen unterschiedlicher Zusammensetzung der Pioniervegetation läuft also die Rückkehr (Resilienz) der Ökosysteme zum Ausgangszustand in Gebirgswäldern langsamer ab.
Was bedeuten diese Erkenntnisse?
Gelegentliche Störungen wie Sturm oder Feuer gehören zur natürlichen Dynamik in einem Wald. Die Natur hat die Fähigkeit, solche für uns als Katastrophe geltenden Ereignisse zu bewältigen und – für Waldzeiträume – relativ schnell zum Ursprungszustand zurückzukehren. Menschliche Massnahmen wie Holzräumung und das Pflanzen von Jungbäumen braucht es höchstens, wenn wir zusätzliche Erwartungen an den Wald haben wie ein möglichst schnelles Wiederherstellen der Holzproduktion oder der Schutzwirkung gegen Lawinen oder Erdrutsche.
Die langfristigen Untersuchungen der Insektenfauna auf Windwurfflächen zeigen uns, dass diese im Vergleich zum unversehrten, geschlossenen Wald eine wichtige Ressource für gefährdete Arten und eine bedeutende Grundlage für eine hohe Biodiversität sind. In vom Sturm gerissenen "Löchern" in einem homogenen Wald können Arten, die im geschlossenen Wald kaum vorkommen, ihre Populationen aufbauen und sich mit solchen in anderen, ähnlichen Lebensräumen genetisch austauschen. Nicht zuletzt profitieren vom hohen Insektenangebot auch andere Tiere wie Vögel, Reptilien oder Fledermäuse. Auch die meisten Krautpflanzen und Sträucher brauchen die Insekten als Bestäuber für ihre Fortpflanzung.

Ungeräumte Windwürfe entwickeln sich zu äusserst wertvollen Lebensräumen. Bild: © Beat Wermelinger
Was sollen wir beim nächsten Sturm tun?
Einerseits sind nach einem grossen Sturm zweifellos dringliche Massnahmen nötig wie das Freilegen von Strassen und Sichern von Infrastrukturen. Bezüglich der ökologischen Konsequenzen des traditionellen Wegräumens von Sturmholz zeigen die erhaltenen Erkenntnisse, dass – wie häufig – eine hohe Vielfalt an Lebensräumen und Strukturen mit einer hohen Vielfalt von Organismenarten einhergeht. Dies bedeutet konkret, dass idealerweise ein nicht zu kleiner Teil der Sturmflächen oder der geworfenen Bäume liegengelassen werden sollte. Man kann aber durchaus auch Sturmholz ernten, vorzugsweise natürlich dort, wo es sich finanziell lohnt. Das Nebeneinander von geräumten und nicht-geräumten Windwürfen sowie intaktem Wald dient einer hohen regionalen Waldbiodiversität am besten.
Quellen
Wermelinger B et al. 1995. Die Entwicklung der Fauna auf Windwurfflächen mit und ohne Holzräumung. Schweiz. Z Forstwes 146: 913-928. https://www.dora.lib4ri.ch/wsl/islandora/object/wsl%3A3433/datastream/PDF/Wermelinger-1995-Die_Entwicklung_der_Fauna_auf-%28published_version%29.pdf
Schönenberger W et al. 2003. Vivians Erbe – Waldentwicklung nach Windwurf im Gebirge. Merkbl Prax WSL 36, 12 S. https://www.dora.lib4ri.ch/wsl/islandora/object/wsl%3A9123/datastream/PDF/Sch%C3%B6nenberger-2003-Vivians_Erbe._Waldentwicklung_nach_Windwurf-%28published_version%29.pdf
Wermelinger B et al. 2017. Impact of windthrow and salvage-logging on taxonomic and functional diversity of forest arthropods. For Ecol Manage 391:9-18. https://doi.org/10.1016/j.foreco.2017.01.033
Wermelinger B et al. 2025. Two decades of arthropod biodiversity after windthrow show different dynamics of functional groups. J Appl Ecol https://doi.org/10.1111/1365-2664.14860
Wermelinger B. 2021: Insekten im Wald – Vielfalt, Funktionen und Bedeutung. 2., aktualisierte Auflage. Eidg. Forschungsanstalt WSL, Birmensdorf; Haupt, Bern, 368 S. https://www.haupt.ch/buecher/natur-garten/Insekten-im-Wald.html