Würden Sie ein Insekt zum Präsidenten wählen?
Insekten regieren diesen Planeten seit über 400 Millionen Jahren – viel länger, als es irgendein parlamentarisches oder präsidiales Mandat je könnte. In dieser Zeit haben sie komplexe Gesellschaften organisiert, beeindruckende Bauwerke errichtet, die Erde aufgeräumt, Gärten kultiviert, und – wie manche sagen würden – in stiller Zusammenarbeit mit Pflanzen, Pilzen und Tieren ganze Ökosysteme geformt.

Können Sie sich diesen Parlamentssaal voll von summenden Insekten vorstellen? Bild: Adobe Stock
Auf einer Blume. Unter einem Stein. Auf der Oberfläche eines Teiches. Im Boden. Ihre Strategien sind leise und erstaunlich effektiv. Allein in der Schweiz sorgen mindestens 30 000 Insektenarten für die Arbeit, die unsere geliebten Landschaften am Leben erhält: sie bestäuben Alpenwiesen und Obstgärten, recyceln Nährstoffe auf Kuhweiden, patrouillieren durch Wälder mit einer Präzision, die sich über Millionen Jahre Evolution entwickelt hat.
«Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt»
Franz Kafka, Die Verwandlung, 1915
Wenn wir das Regieren nicht über Macht definieren, sondern über das, was Gleichgewicht und Funktionsfähigkeit sichert, dann könnten Insekten zu den effizientesten Herrschern gehören, die dieser Planet je gesehen hat. Was folgt, ist ein biologisch fundiertes Gedankenexperiment, in dem verschiedene in der Schweiz vorkommende Insekten auf Ministerposten berufen werden – basierend allein auf ökologischer Funktion und Verhaltenskomplexität. Manche glänzen, manche stechen, manche arbeiten im Verborgenen – aber alle haben uns etwas beizubringen.
Würden Sie ein Insekt zum Präsidenten wählen? Natürlich nicht. Aber vielleicht wünschen Sie sich am Ende dieses Textes, dass eines kandidieren würde.
Präsidentin – Formica rufa (Rote Waldameise)

Die Rote Waldameise (Formica rufa) ist eine grosse Waldameise, die für ihre kuppelförmigen Nester und die aggressive Verteidigung ihres Territoriums bekannt ist. Bild: Wikimedia Commons/Richard Bartz, CC-Lizenz
Allgegenwärtig in Schweizer Wäldern sind Rote Waldameisen unermüdliche Erbauerinnen der Gesellschaft. Sie koordinieren riesige Kolonien, verwalten Ressourcen und wehren Eindringlinge mit einer Diplomatie aus Ameisensäure ab. Um Shakespeare zu paraphrasieren: Sie sind „aus solchem Stoff, aus dem Führer gemacht sind“.
Aussenminister – Vanessa atalanta (Admiralfalter)
Ein wandernder Schmetterling, der im Frühling und Herbst durch die Schweiz zieht. Elegant, unwiderstehlich, kosmopolitisch und gleichzeitig transnational – er ziert Gärten von Genf bis Graubünden. Er verkörpert Diplomatie in Bewegung, verbindet Landschaften, bestäubt über Grenzen hinweg und erinnert uns daran, dass Schönheit, wie auch Biodiversität, keine Grenzen kennt.
Finanzministerin – Apis mellifera (Honigbiene)
Die erfolgreichste Schatzmeisterin, die man sich vorstellen kann. Sie betreibt Wirtschaft auf der Basis lokaler Investitionen und ohne externe Verschuldung. Sie ist Expertin im kommunikationsbasierten Management von Ressourcen, Vorräten – Nektar, Pollen, Wachs – und der Arbeitsverteilung.
Umweltminister – Geotrupes stercorarius (Gemeiner Mistkäfer)

Gemeiner Mistkäfer (Geotrupes stercorarius), East Yorkshire, Vereinigtes Königreich. Bild: Wikimedia Commons/Jessica Towne, CC-Lizenz
Dieser stille Nachhaltigkeitsführer arbeitet meist nachts, auf Kuhweiden und in Wäldern im ganzen Land – er recycelt Nährstoffe, belüftet den Boden, beherrscht ökologische Ingenieurskunst und Abfallwirtschaft.
Landwirtschaftsministerin – Bombus lapidarius (Steinhummel)
Die geniale Agronomin und Blumenflüsterin. Eine wichtige Bestäuberin sowohl für Nutzpflanzen als auch für alpine Wiesen. Diese Ministerin ist Expertin im Krisenmanagement. Wenn Ressourcen knapp sind, verhandelt sie nicht um mehr Blüten – sie sorgt dafür, dass sie erscheinen. Alles, was es braucht, ist ein präziser Einschnitt mit ihren Mundwerkzeugen in das Blatt der Pflanze, um eine frühere Blütezeit auszulösen und so die Nahrungsversorgung zu sichern. Diese Bienen schreiben den Fahrplan einfach um.

Steinhummel (Bombus lapidarius) -Königin auf Gewöhnlichem Natternkopf (Echium vulgare). Keila, nordwestliches Estland. Bild: Wikimedia Commons/Ivar Leidus, CC-Lizenz
Justizministerin – Calliphora vicina (eine Schmeissfliegenart)
Die Superheldin evidenzbasierter Politik. Gekleidet in einer metallisch blauen Uniform, gehört diese kleine Fliege zu den ersten Ermittlern an Tatorten. Sie liefert forensischen Experten mit bemerkenswerter Präzision Hinweise auf den Todeszeitpunkt. Bürokratie beeindruckt sie nicht – diese Ministerin ist führend im Aufdecken unbequemer Wahrheiten.

Calliphora vicina ist eine schillernd blaue Schmeissfliege, die manchmal eine gelbe Blase aus hochgewürgter Flüssigkeit bildet, um die Verdauung zu unterstützen. Bild: Wikimedia Commons/Alvesgaspar, CC-Lizenz
Chef des Nachrichtendienstes – Phengaris arion (Quendel-Ameisenbläuling)

Der Quendel-Ameisenbläuling (Phengaris arion) ist eine seltene und faszinierende Art, die für einen Teil ihres Lebenszyklus auf Ameisen angewiesen ist. Bild: Wikimedia Commons/Zeynel Cebeci, CC-Lizenz
Zunächst unscheinbar, aber keineswegs zu unterschätzen: Unter seinen himmlischen Flügeln führt dieser Schmetterling eine der ausgeklügeltsten verdeckten Operationen der Naturwelt. Seine Larven beginnen ihr Leben auf Thymianblüten, lassen sich dann zu Boden fallen, wo sie den Geruch von Myrmica-Ameisenlarven imitieren. In die Nester getragen, werden sie wie die eigene Brut gepflegt – bis sie schlüpfen und beginnen, ihre Wirte von innen zu verzehren. Elegant und geduldig – dieser Minister weiss, dass Macht im Timing liegt.
Ministerin für Wasser und Klima – Baetis alpinus (eine Eintagsfliegenart)

Baetis alpinus (Pictet, 1843) in Österreich. Bild: gbif.org/Valerie Saliger, CC-Lizenz
Ein zentraler Bioindikator für alpine Süsswassersysteme in der Schweiz. Sie regiert durch Präsenz, nicht durch Macht. Auch wenn ihr Erwachsenenleben nur wenige Tage dauert, spielt ihre Nymphenzeit in kalten Bergbächen eine entscheidende Rolle beim Nährstoffkreislauf und in der Erhaltung aquatischer Nahrungsnetze. Die Najaden der Schweiz reagieren empfindlich auf Verschmutzung und Temperaturveränderungen: Wo sie gedeihen, ist das Ökosystem im Gleichgewicht – wo sie verschwinden, ist es ein Warnsignal.
Bildungsministerin – Polistes sp. (eine Feldwespenart)
Mit einzigartigen kognitiven Fähigkeiten – einschliesslich Gesichtserkennung – und einem beeindruckenden Lebenslauf, der Forschungsbeteiligungen an modernsten verhaltensbiologischen und neurowissenschaftlichen Studien in ganz Europa umfasst, ist dies die ideale Kandidatin für Bildungsinnovation: anpassungsfähig, aufmerksam und dem lebenslangen Lernen verpflichtet. Sie bringt einen scharfen Verstand – und einen scharfen Stachel.

Eine Feldwespe auf ihrem Nest. Bild: Adobe Stock
Kulturministerin – Osmia tergestensis (eine Solitärbienenart)

Ein kunstvolles Blütenhaus gebaut von einer Osmia tergestensis. Bild: Entomologie/Botanik, ETH Zürich/Albert Krebs, CC-Lizenz
Eine Solitärbiene, die – wenn sie nicht gerade Blumen bestäubt – sich in Felsspalten zurückzieht und dort einige der kunstvollsten Werke erschafft, die ein Tier je hervorgebracht hat. Ihre Brutkammern, geschichtet mit farbigen Blütenblättern wie Seidenorigami, könnten direkt aus den Glockentürmen einer Miniatur-Sagrada Familia stammen. Eine einzigartige Visionärin, geleitet von einer inneren Geometrie, die kein Bauplan erfassen kann – und laut Roter Liste der Schweizer Bienen: eine bedrohte Art.
Verteidigungsminister – Brachinus crepitans (Grosser Bombardierkäfer)

Ein Grosser Bombardierkäfer. Bild: Wikimedia Commons/Udo Schmidt, CC-Lizenz
Wenn Diplomatie versagt, eskaliert der Bombardierkäfer nicht – er handelt. Mit einem chemischen Reaktor in seinem Hinterleib kann er kochende Flüssigkeit auf Angreifer abschiessen. Dieses Verteidigungssystem ist keine rohe Gewalt, sondern biochemische Präzision, perfektioniert über Millionen Jahre Evolution. Ein ehrenhafter Soldat, der eine Warnung – ein leises Knistern – gibt, bevor er angreift. Wird diese ignoriert, schont er seine Feuerkraft nicht. Kein Bluff, kein Übermass – nur die perfekte Dosis Abschreckung. Heute jedoch steht dieser Stratege auf der Liste gefährdeter Arten in der Schweiz: ein Meister der Verteidigung, der nun selbst Schutz braucht.
Gesundheitsministerin – Aedes albopictus (Asiatische Tigermücke)
Mit Hauptsitz im Tessin erinnert uns diese dezentralisierte Ministerin daran, dass die Klimakrise nicht erst kommt – sie ist längst da und summt um unsere Knöchel. Ihr Ressort ist Prävention, und ihr Auftrag, die Schwachstellen unserer Systeme aufzuzeigen. Unheilvoll, modern, unerbittlich – eine Gesundheitsministerin, die die Konvergenz von Klimawandel und ökologischer Störung verkörpert. Eine Ministerin für das Anthropozän. Sicherlich wollen wir sie nicht lange im Amt – doch momentan ist sie da. Und sehr präsent.

Asiatische Tigermücke (Aedes albopictus). Bild: Wikimedia Commons/James Gathany, CDC
Epilog
Gregor Samsa wurde in Franz Kafkas Die Verwandlung auf unerklärliche Weise in ein Insekt verwandelt – und von seiner Familie verstossen. Eine Überreaktion, vielleicht – und keine unbekannte. Kafka weigerte sich, das Insekt zu beschreiben; er nannte es nur monströs und unrein. Spätere Illustrationen machten Samsa zu einer Kakerlake – offenbar konnte sich die Vorstellungskraft nicht damit abfinden, ihn ohne Form zu lassen.
Was, wenn das keine Tragödie war? Was, wenn Samsa eine Metapher war, die nur ein paar Jahrzehnte zu früh kam?
Insekten wurden lange missverstanden: zu viele Beine, zu wenig Charme, zu schmerzhafte Stiche, zu lautes Summen. Und doch versorgen sie uns mit Nahrung, beseitigen unsere Abfälle, regulieren Ökosysteme und managen ganze Landschaften – ganz ohne Gipfel oder Pressekonferenz.
Wir werden sie niemals in ein Amt wählen. Aber wenn sie aufhören zu regieren, werden wir es merken. Schnell.
Quellen
Widmer I et al. 2021. Insektenvielfalt in der Schweiz: Bedeutung, Trends, Handlungsoptionen. Swiss Academies Reports 16 (9) https://scnat.ch/de/uuid/i/0ffab3f6-5259-51df-a67b-6a04cc8def23-Insektenvielfalt_in_der_Schweiz
Rüegg P 2020. Bumblebees speed up flowering. ETH News. Stand 25.4.2025. https://ethz.ch/en/news-and-events/eth-news/news/2020/05/bumblebees-speed-up-flowering.html
Hodecek J et al. 2024. All insects matter: a review of 160 entomology cases from 1993 to 2007 in Switzerland—part I (Diptera), Journal of Medical Entomology 61;2:400–409. https://doi.org/10.1093/jme/tjad164
University of Michigan 2019. Paper wasps capable of behavior that resembles logical reasoning https://neurosciencenews.com/paper-wasp-logical-reasoning-13052/
Info fauna 2024. Neue Rote Liste Laufkäfer der Schweiz. Stand 25.4.2025 https://www.infofauna.ch/de/node/2391#gsc.tab=0
Swiss Tropical and Public Health Institute. Asiatische Tigermücke. Stand 25.4.2025 https://www.swisstph.ch/en/topics/asian-tiger-mosquito