Mordshungrig – Die Europäische Gottesanbeterin
Obwohl die Europäische Gottesanbeterin in den USA nicht heimisch war, breitete sie sich im 20. Jahrhundert in ganz Nordamerika aus und wurde 1977 überraschenderweise zum offiziellen Staatsinsekt von Connecticut ernannt.

Eine Europäische Gottesanbeterin (Mantis religiosa) entblösst zwei schwarze “Augenflecken” mit weissem Zentrum an der Basis ihrer Beine. Mit diesem Verhalten (deimatisches Verhalten oder Drohverhalten) sollen Feinde abgeschreckt werden. Bild: © Kaan Yılmaz
Steckbrief
- Weltweit sind 2 400 Arten von Gottesanbeterinnen (Mantodea, auch Fangschrecken genannt) bekannt, die in verschiedenen Lebensräumen wie Wäldern, Wüsten und Grasland leben.
- Die Europäische Gottesanbeterin ist in den gemässigten Zonen Europas, Asiens und Nordafrikas beheimatet, kommt aber inzwischen auf der ganzen Welt vor und ist in den USA und Kanada gut etabliert. Jüngste Studien haben gezeigt, dass die Europäische Gottesanbeterin ihr Verbreitungsgebiet aufgrund des Klimawandels nach Norden ausdehnt.
- Dank ihrer braunen, gelben oder grünen Farbe verschmilzt die Europäische Gottesanbeterin mit ihrer Umgebung – ein Schutz vor Raubtieren. Die Farbe hängt von der Feuchtigkeit des Lebensraums der Gottesanbeterin und von der Photoperiode ab, der die Gottesanbeterin ausgesetzt war.
- In Mitteleuropa kann dieses 7–10 Zentimeter lange Insekt mit anderen Arten wie Iris oratoria, Tenodera sinensis oder Hierodula sp. verwechselt werden. Sie lässt sich leicht von anderen Arten durch zwei auffällige “Augenflecken” auf den Vorderbeinen unterscheiden.
- Sie zeichnen sich durch einen langen, schlanken Körper und einen grossen, dreieckigen Kopf aus, der sich um 180 Grad drehen kann. Ausserdem haben sie einzigartig geformte, lange und kräftige Vorderbeine, mit denen sie ihre Beute fangen und festhalten.
- Gottesanbeterinnen haben ein ausgezeichnetes Sehvermögen dank zwei grossen Facettenaugen und drei einfachen Augen.
- Männchen und Weibchen sind leicht voneinander zu unterscheiden, da der Hinterleib der Weibchen in 6 Segmente und der der Männchen in 8 Segmente unterteilt ist. Die Männchen sind in der Regel kleiner als die Weibchen.
- Die Europäische Gottesanbeterin ist zwar ein wirksames Mittel zur Bekämpfung von Schädlingen in der Landwirtschaft, insbesondere von Blattläusen, aber sie frisst auch wahllos landwirtschaftlich nützliche Insekten.
Systematik
- Reich
- Tiere (Animalia)
- Stamm
- Gliederfüsser (Arthropoda)
- Klasse
- Insekten (Insecta)
- Ordnung
- Fangschrecken (Mantodea)
- Familie
- Mantidae
- Gattung
- Mantis
- Art
- Europäische Gottesanbeterin (M. religiosa)
Gottesanbeterinnen in der Schweiz
Die einzige in der Schweiz etablierte Fangschreckenart ist die Europäische Gottesanbeterin (Mantis religiosa). Es gibt einzelne Berichte über Ameles spallanzania, die möglicherweise eingeschleppt wurde, aber es bleibt abzuwarten, ob sich die Art etablieren wird.

Verbreitung von Mantis religiosa in der Schweiz. Rot: Sichtungen nach 2000, orange: Sichtungen vor 2000. Bild: infofauna.ch
Lebenszyklus
Gegen Mitte des Herbstes legen die Weibchen ca. 100–200 Eier in einer Eikapsel ab, meist auf einjährigen Stauden, Disteln oder auf der Oberfläche von Felsen und sterben bei Einbruch des Frostes ab. Die Nymphen, die Mitte des Frühjahrs aus den Eiern schlüpfen (dies kann je nach Region und äusseren Bedingungen variieren), sehen gleich wie die erwachsenen Tiere aus, mit dem Unterschied, dass sie flügellos sind. Die Europäische Gottesanbeterin, die sich während ihres Wachstums von grösseren Insekten ernähren muss, wird im Hochsommer erwachsen, nachdem sie 6–8 Mal eine Häutung durchlaufen hat. September und Oktober gelten als Paarungszeit und sind die Zeit, in der das Weibchen vor der Eiablage die meiste Nahrung benötigt. In dieser Phase können die Weibchen die Männchen (manchmal auch andere Weibchen) fressen, um die für die Entwicklung ihrer Eier benötigten Proteine und Fette aufzunehmen.

Eikapsel (Oothek) einer Gottesanbeterin. Bild: Adobe Stock
Ist sexueller Kannibalismus die Regel?
Weibliche Gottesanbeterinnen sind berüchtigt für ihre Angewohnheit, Männchen ihrer eigenen Art zu verschlingen. Dieses Verhalten, das als sexueller Kannibalismus bekannt ist, wird insbesondere von M. religiosa sowohl in freier Wildbahn als auch in Gefangenschaft gezeigt. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies in der Natur vorkommt, wird jedoch nur mit etwa 30% angegeben. Der Hauptzweck dieses Verhaltens, das auch bei verschiedenen Skorpion-, Amphipoden- und Spinnenarten zu beobachten ist, besteht vermutlich in der Steigerung des Fortpflanzungserfolgs durch Verbesserung der körperlichen Fitness des Weibchens. Dieses extreme Verhalten kann während oder nach der Paarung beobachtet werden, und manchmal kann das Männchen vor der Kopulation gefressen werden.
Zum Auftreten von sexuellem Kannibalismus wurden viele adaptive* und nicht-adaptive Hypothesen vorgeschlagen. So wird bei adaptiven Hypothesen in der Regel argumentiert, dass sich die Gesamtfitness des Weibchens durch den Verzehr des Männchens verbessert, wodurch es mehr Eier produzieren kann, was sich positiv auf den Fortpflanzungserfolg auswirkt. Im Gegensatz dazu legen einige nicht-adaptive Hypothesen nahe, dass Sexualkannibalismus die genetische Vielfalt verringern und die Paarungsmöglichkeiten für einige Weibchen einschränken könnte, insbesondere aufgrund des Sexualkannibalismus ohne Paarung.
Neben dem Ernährungszustand des Weibchens beeinflussen verschiedene Faktoren das Auftreten dieser extremen Form des Paarungsverhaltens, wie der Paarungsstatus des Weibchens, die körperliche Fitness des Männchens und die genetische Veranlagung des Weibchens (angeborene Aggression, auf Englisch “aggressive spillover hypothesis”*). Tatsächlich wurde berichtet, dass einige Gottesanbeterinnen-Arten weniger Kannibalismus zeigen als andere und sogar gemeinschaftlich aufgezogen werden können, wenn genügend Nahrung vorhanden ist, wie zum Beispiel die Arten der Gattung Empusa. Laut früheren Forschungsergebnissen wird die Debatte über die adaptive oder nicht-adaptive Natur des kannibalischen Sexualverhaltens fortgesetzt und kann sogar auf der Ebene der Arten variieren.

Ein M. religiosa-Weibchen (links) verschlingt seinen Partner (rechts, nur die ausgebreiteten Flügel sind zu sehen). Bild: © Kaan Yılmaz
*Glossary:
Adaptive und nicht-adaptive Hypothesen: Evolution wird durch mehrere adaptive und nicht-adaptive Faktoren angetrieben. Die natürliche Auslese auf der Grundlage von Umwelteinflüssen ist ein adaptiver Faktor, der zu einer verstärkten Reproduktion besser angepasster Individuen führt. Nicht-adaptive Faktoren, wie z. B. Zufallsmutationen, treten unabhängig von Umwelteinflüssen auf, ohne notwendigerweise die Fitness des Individuums zu verbessern.
Aggressive spillover hypothesis: Nach dieser Hypothese sind aggressivere Weibchen (gemessen daran, wie schnell sie ihre Beute angreifen) eher bereit, potenzielle Partner zu kannibalisieren, unabhängig von den Ernährungs- oder genetischen Eigenschaften des Männchens.
Quellen
Battiston R & Fontana P 2022. Colour change and habitat preferences in Mantis religiosa. Bulletin of insectology, 63(1):85–89. https://openpub.fmach.it/handle/10449/23551
Fisher AM et al. 2020. Behavioural correlations and aggression in praying mantids. Behavioral Ecology and Sociobiology 74(5):1–10.
Gardenia. (2024. Praying mantis. https://www.gardenia.net/guide/praying-mantis Stand 30.5.24
Gemeno C et al. 2005. Nocturnal calling behavior in mantids. Journal of Insect Behavior 18(3): 389–403. https://doi.org/10.1007/S10905-005-3698-Y
Infofauna.ch 2023. Ameles spallanzania (Mantodea), eine neu in der Schweiz entdeckte Gottesanbeterin. https://www.infofauna.ch/de/node/1882#gsc.tab=0 Stand 30.5.24
Lawrence SE 1992. Sexual cannibalism in the praying mantid, Mantis religiosa: a field study. Animal Behaviour 43(4):569–583. https://doi.org/10.1016/S0003-3472(05)81017-6
Steger Jet al. 2020. Effects of projected climate change on the distribution of Mantis suggest expansion followed by contraction. Web Ecology 20(2): 107–115. https://doi.org/10.5194/WE-20-107-2020