Scheinheilige Ameisen
Die Interaktionen zwischen Ameisen, Pflanzen und honigtauproduzierenden Insekten wie Blattläusen sind ein faszinierendes Beispiel dafür, wie sich die Interessen innerhalb einer Beziehung ändern können.
Ameisen (Ordnung: Hautflügler (Hymenoptera); Familie: Ameisen (Formicidae)) sind soziale Insekten, die für ihre unglaubliche Stärke, ihre komplexen Kolonien und ihre vielfältigen Ernährungsgewohnheiten bekannt sind. Je nach Lebensweise können Ameisen unterschiedliche Rollen in Ökosystemen spielen, z. B. als Räuber, Zersetzer oder Leibwächter anderer Arten in mutualistischen* Beziehungen.
Beispiele für Ameisen, die Blattläuse hegen, sind: Crematogaster auberti Emery (Myrmicinae), Camponotus foreli Emery und Camponotus aethiops Latreille (Formicinae). Sie alle kommen auf dem Strauch Retama sphaerocarpa vor.
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In der Natur werden Pflanzen von einer Vielzahl pflanzenfressender Insekten angegriffen. Als Reaktion darauf haben die Pflanzen Strategien entwickelt, um mit ihnen fertig zu werden. Bei einigen dieser Strategien müssen sich die Pflanzen nicht selbst wehren, indem sie z. B. einen insektiziden Stoff produzieren, sondern sie gehen auf die Bedürfnisse der natürlichen Feinde der Pflanzenfresser ein. Einige Pflanzen stehen in enger Beziehung zu Ameisen und haben spezielle Strukturen wie Futterkörper (kleine Strukturen z. B. auf Blättern, die Nährstoffe enthalten), extraflorale Nektarien (nektarproduzierende Drüsen ausserhalb der Blüten) oder Domatien (Hohlräume in den Stängeln, Blättern und Stacheln von Pflanzen) entwickelt, die den Insekten Nahrung oder Schutz bieten. Im Gegenzug schützen die Ameisen ihre Wirtspflanze* vor unerwünschten Besuchern, die versuchen, sie zu besiedeln. Dank ihrer Stärke und ihrer grossen Anzahl sind fleischfressende Ameisen hervorragende Bodyguards, die alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihre geliebte Pflanze von hungrigen Insekten freizuhalten. Sie können sie zwar töten und fressen, aber schon die Anwesenheit von fleischfressenden Ameisen auf einer Pflanze kann andere Insekten davon abhalten, überhaupt einen Fuss auf die Pflanze zu setzen.
Lästige Mieter
Blattläuse und andere Insekten aus der Ordnung Hemiptera sind zweifellos Beispiele für Besucher, die eine Pflanze nicht haben möchte. Diese pflanzenfressenden Insekten entziehen den Pflanzen Nährstoffe, indem sie mit ihren spezialisierten, nadelförmigen Mundwerkzeugen die Pflanzenblätter anstechen und sich von den Pflanzensäften ernähren. Blattläuse sind sehr klein, und die Anwesenheit einer einzigen Blattlaus stellt noch kein Problem für die Pflanze dar. Allerdings verfügen Blattläuse über eine bemerkenswerte Fähigkeit sich zu vermehren, indem sie sich schnell klonen, wenn sie eine gute Wirtspflanze finden und die Bedingungen stimmen. In diesem Fall kann eine Blattlaus innerhalb weniger Tage Dutzende von neuen Blattläusen produzieren, deren Nachkommen sich ebenso schnell vermehren, was zu einem rasanten Wachstum der Blattlauspopulation führt. Mit zunehmender Zahl der Blattläuse steigt der Ressourcenverbrauch stark an, was das Wachstum und die Entwicklung der Pflanzen verlangsamt oder sogar hemmt.
Wie Ameisen ihre Wirtspflanze für einen süssen Snack hintergehen
Wenn Blattläuse (oder andere honigtauproduzierende Insekten) eine Wirtspflanze von Ameisen besiedeln, entsteht eine unerwartete Allianz. Anstatt die Blattläuse zu verscheuchen, zu bekämpfen oder zu fressen, beschliessen die Ameisen oft, sie zu schützen. Der Grund dafür ist der Honigtau, ein von Blattläusen produziertes Abfallprodukt, das von Ameisen (und anderen Insekten) sehr geschätzt wird. Blattläuse scheiden mit dieser klebrigen, zuckerhaltigen Substanz überschüssigen Zucker aus, den sie mit dem Pflanzensaft aufgenommen haben.
Um fortlaufend von dieser Zuckerquelle zu profitieren, schützen Ameisen die Honigtauerzeuger vor ihren natürlichen Feinden wie Marienkäfern und parasitischen Wespen. Darüber hinaus können Ameisen Blattläuse auf Pflanzen bringen, die noch nicht von ihnen befallen sind, um neue Blattlauskolonien zu gründen. Zusätzlich zu diesen Schutzmassnahmen tragen Ameisen dazu bei, dass die Blattlauskolonien viel grösser werden, als sie es normalerweise würden. Durch den Verzehr von Honigtau verhindern Ameisen, dass Blattlauskolonien durch einen Überfluss an Honigtau zu einem klebrigen Haufen werden, der Krankheiten begünstigen kann. Ameisen fressen aber auch Blattläuse, und entfernen damit junge Blattläuse oder solche, die ihren Ansprüchen an die Honigtauproduktion nicht genügen; so dienen Blattläuse auch als Proteinquelle für die Ameisen. Diese Beziehung ähnelt der menschlichen Viehzucht, wobei die Ameisen ihr “Vieh” – die Blattläuse – verwalten, pflegen und verteidigen. Sowohl Ameisen als auch Blattläuse profitieren von dieser Beziehung, einer mutualistischen* Symbiose.
Für die Wirtspflanze ist diese Überzahl an gezüchteten Honigtauerzeugern jedoch schädlich, da sie die Pflanze schwächen, ihre Produktivität verringern oder sogar zu ihrem Tod führen kann. Ausserdem kann die Anwesenheit von Ameisen nützliche Insekten wie Bestäuber abschrecken, was sich negativ auf den Fortpflanzungserfolg der Pflanze auswirken kann. Um dem entgegenzuwirken, setzen bestimmte Pflanzen in der Blütezeit ameisenabweisende chemische Verbindungen frei.
Sind Ameisen also Freunde oder Feinde? Die Antwort liegt im Kontext ihrer komplexen ökologischen Interaktionen.
*Glossar
Wirt: Ein Organismus, der einem anderen Organismus vorübergehend oder dauerhaft als Lebensraum dient oder ihm Nahrung, Schutz oder die Möglichkeit zur Vermehrung bietet. Der Mensch zum Beispiel ist ein Wirt für Stechmücken, die sich bei ihm mit Blut versorgen, oder für Malaria-Parasiten, die sich in ihm vermehren.
Mutualismus: Eine enge Beziehung zwischen zwei Organismen verschiedener Arten, die für beide Organismen von Vorteil ist.
Quellen
Cuny MAC et al. 2021. The enemy of my enemy is not always my friend: Negative effects of carnivorous arthropods on plants. Functional Ecology 35(11):2365–75. https://doi.org/10.1111/1365-2435.13884
Ortega-Ramos PA et al. 2020. Ants indirectly reduce the reproductive performance of a leafless shrub by benefiting aphids through predator deterrence. Plant Ecology 221: 91–101. https://doi.org/10.1007/s11258-019-00995-0
Ivens ABF and Kronauer DJC. 2022 Aphid-farming ants. Current Biology 32:R807–R827. 10.1016/j.cub.2022.06.072