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Wissenschaftliche Insektenzeichnungen gestern und heute

Die Insektenzeichnungen von Johannes Rudolf Schellenberg sind nicht nur schön, sondern auch wissenschaftlich genau. Auch wenn die Fotografie seit Schellenbergs Zeit zum Standard der Dokumentation geworden ist, hat das Zeichnen von Insekten auch heute noch seinen Platz in der Wissenschaft.

veröffentlicht am:
geschrieben von: Michael Greeff , Linda Vogel
Insektenaquarelle von Faltern und Raupen von Johann Rudolf Schellenberg, zwischen 1760 und 1800.

Insektenaquarelle von Faltern und Raupen von Johann Rudolf Schellenberg, zwischen 1760 und 1800. Bild: Wikimedia Commons/Johann Rudolph Schellenberg, CC-Lizenz 

In harmonischen Farben aquarellierte Johann Rudolf Schellenberg (1740–1806) eine scheinbar beliebige Detailaufnahme eines Wiesenbodens. Im Gewirr der einheimischen Pflanzen tummeln sich Amphibien, Reptilien und Insekten, die mit- und nebeneinander im Einklang den kleinen Ausschnitt des Ökosystems bewohnen. Nahe des Wiesenbodens ist die Anordnung dicht, gegen oben öffnet sich die Vegetation und gibt den Blick frei auf einen leicht bewölkten Himmel. Das Geschehen wirkt natürlich und lebendig, direkt nach der Natur gezeichnet. Tatsächlich könnten bei genauer Analyse jede einzelne Pflanze sowie die Tiere nach ihrer Art benannt werden. Sehen wir hier ein Kunstwerk? Oder eher eine wissenschaftliche Illustration?

Meadow with insects

Das Aquarell "Wiesenstück mit Insekten" von Johann Rudolf Schellenberg. Bild:  ETH-Bibliothek Zürich, Graphische Sammlung / Z 110 / Public Domain Mark 1.0

Ein Wissenschaftler und Künstler

Schellenberg war ein Winterthurer Maler, Radierer, Buchillustrator und leidenschaftlicher Entomologe. Neben der Anfertigung von Schweizer Landschaftsgemälden, Porträts, Trachtenbildern und verschiedenen Buchillustrationen beschäftigte er sich sein Leben lang mit der Illustration von entomologischen und botanischen Büchern. Wie andere Illustratoren des ausgehenden 18. Jahrhunderts stand er an der Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft:  Obwohl die prachtvollen Blumen- und Wiesenstücke vom Künstler selbst erdacht und konstruiert wurden, bilden präzise Naturstudien und eine wissenschaftlich genaue Darstellung der abgebildeten Pflanzen und Tiere die Grundlage der Kompositionen.

Red admiral Vanessa atalanta

Schellenberg war nicht nur ein geschickter Zeichner, sondern auch ein begeisterter Entomologe, der die Morphologie (die äussere Form) der Insekten studierte. Hier zu sehen ist der Schmetterling Admiral, Vanessa atalanta. Bild:  © Stadtbibliothek Winterthur, Ms_8°_148-ordo_1-001.

Am Puls der Zeit

Die Naturkunde als Forschungsdisziplin wie auch Insektenillustrationen erlebten im 18. Jahrhundert einen Höhepunkt. Mit der Einführung der binären Nomenklatur*, die nach 1758 als allgemeine Regel anerkannt wurde, standen Fragen zur Klassifizierung von Lebewesen im Vordergrund der Forschung. Viele Künstlerinnen und Künstler wie Schellenberg begannen selbstständig zu forschen, sie spezialisierten sich und brachten eigene Insektenwerke heraus. Schellenberg erstellte über die Jahre eine Sammlung systematisch geordneter Insektendarstellungen, die er laufend ergänzte, wenn neue Erkenntnisse gewonnen wurden. An diesen Einzelmotiven orientierte er sich und verwendete sie immer wieder in seinen Illustrationen. Allein die Stadtbibliothek Winterthur besitzt heute etwa 4 000 solcher Studien. Alle sind nach Klassen und Gattungen geordnet und benannt, mit einer Legende versehen und handschriftlich mit den Klassifizierungsmerkmalen nach Linné oder Fabricius ergänzt. 

Schellenberg taxonomy

Schellenberg ordnete seine Insektenbilder nach der neu entwickelten Systematik von Linné bzw. Fabricius. Diese Vorlagen verwendete er immer wieder für weitere Werke. Bild: © Linda Vogel

Diese Beispiele zeigen, dass Schellenberg nicht nur auftragsausführend war, sondern selbst ein genuines Interesse an der Erforschung von Insekten hatte. Darauf deutet auch sein Selbstportrait hin, das ihn mit einem Insektenfänger zeigt. Schellenberg führte die Motive oft mit höchster wissenschaftlicher Korrektheit aus. So sind die Insekten meist in Originalgrösse abgebildet und so exakt gezeichnet, dass mit der Lupe sogar die kleinsten Härchen an den Beinen zu sehen sind. In einigen Fällen fügte Schellenberg den gemalten Insektenkörpern sogar echte Flügel bei.

Ms 8 128 Libellula 003

Auf einige Aquarelle wie dieser Libelle klebte Schellenberg echte Flügel. Bild: © Stadtbibliothek Winterthur.

Konkurrenz durch Fotografie

Obwohl wir heutzutage schnell und einfach hochauflösende Fotografien von Insekten erstellen können, haben Zeichnungen und Gemälde immer noch ihren Platz in der Wissenschaft. Armin Coray (*1955) vom Naturhistorischen Museum Basel beispielsweise hat sich weit über die Landesgrenzen hinaus einen Ruf als exzellenter Zeichner von Insekten erworben. 

The predatory beetle Licinus depressus

Armin Coray setzt sich vertieft mit der Lebensweise und Morphologie von Insekten auseinander, um in seinen Zeichnungen die wichtigen Merkmale hervorzuheben. Hier der Käfer Licinus depressus, der die Schnecke Chondrina arcadica frisst. Bild: Armin Coray, in Baur et al. 2023.

Fotografien stellen mehr oder weniger das Äussere eines individuellen Insekts dar, mit allen Fehlern und Besonderheiten dieses einen Individuums. Sie zeigen alles, auch abgebrochene Fühler, untypische Farbmuster, aussergewöhnliche Körpergrössen. Ein Zeichner wie Coray hingegen schafft in seinem Werk eine Interpretation eines Insekts, er betont entscheidende Merkmale, lässt Unwichtiges weg und gibt so den Betrachtern eine Wegleitung, um das Insekt zu verstehen. Ein Insekt zu zeichnen, zwingt einen aber auch umgekehrt genau hinzuschauen. Kein Wunder also, dass seit jeher viele Illustratoren und Illustratorinnen selbst entomologische Forschung betreiben und vertiefte Kenntnisse zur Morphologie und Lebensweise der Insekten besitzen. Bis heute gehört das Zeichnen von Tieren und Pflanzen nach der Natur daher zum unverzichtbaren Bestandteil eines Biologiestudiums. 

*Glossar

Binäre Nomenklatur: In der Wissenschaft wird jede Art mit einem eindeutigen Namen bezeichnet, der aus zwei Teilen besteht. Der erste Teil des Namens bezeichnet die Gattung, zu der die Art gehört. Der zweite Teil ergibt zusammen mit dem ersten Teil den kompletten Artennamen. So trägt zum Beispiel der auf Deutsch als Admiral bekannter Schmetterling den wissenschaftlichen Namen Vanessa atalanta. Dieses System wurde im 18. Jahrhundert vom schwedischen Naturforscher Carl von Linné entwickelt und von weiteren Forschern wie Fabricius weitergeführt. 

Quellen

1. Thanner B. 1987. Schweizerische Buchillustration im Zeitalter der Aufklärung am Beispiel von Johann Rudolf Schellenberg. Stadtbibliothek Winterthur.

2.  Hünniger D. 2017. Sammeln, Sezieren und Systematisieren. Naturkundliche Verfahrensweisen in der Insektenkunde um 1800. In: Förschler S, Mariss A. (Hrsg.) Akteure, Tiere, Dinge. Verfahrensweisen der Naturgeschichte in der Frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien.

3. Thanner B, Schmutz H-K., Geus A. 1987. Johann Rudolf Schellenberg: der Künstler und die naturwissenschaftliche Illustration im 18. Jahrhundert. Stadtbibliothek Winterthur.

4. https://www.nmbs.ch/de/museum/ueber-uns/team/armin-coray.html

5. Baur H, Gilgado JD, Coray A. 2023. Prey handling and feeding habits of the snail predator Licinus depressus (Coleoptera, Carabidae). Alpine Entomology 7: 63-68. https://doi.org/10.3897/alpento.7.103164

Autor:in

Michael Greeff

Dr. Michael Greeff

ETH Zurich - The Biocommunication Group
Linda Vogel

Linda Vogel

University of Zurich

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