Kolibri-Doppelgänger – Das Taubenschwänzchen
Halt, war das ein Kolibri? Wenn Sie sich in der Schweiz über ein unbekanntes Flugobjekt an ihren Blumen wundern, dann nein, es war kein Kolibri. Kolibris leben nur auf dem amerikanischen Kontinent. Es handelte sich höchstwahrscheinlich um ein Taubenschwänzchen.
Steckbrief
- Das Taubenschwänzchen Macroglossum stellatarum gehört zu den Schwärmern (Sphingidae), einer Familie der Schmetterlinge.
- Schwärmer bestäuben Blumen, während sie mit ihrem langen Rüssel Nektar aufnehmen.
- Der deutsche Name des Taubenschwänzchens stammt daher, dass das zweiteilige Haarbüschel am hinteren Körperende an die Schwanzfedern von Tauben erinnert.
- Das Taubenschwänzchen landet nicht auf der Blüte, sondern schwebt scheinbar regungslos in der Luft vor der Blüte und schlägt seine Flügel mit 85 Schlägen pro Sekunde, 35 Flügelschläge schneller als ein Kolibri.
- Taubenschwänzchen gelten nicht als bedroht.
Systematik
- Reich
- Tiere (Animalia)
- Stamm
- Gliederfüsser (Arthropoda)
- Klasse
- Insekten (Insecta)
- Ordnung
- Schmetterlinge (Lepidoptera)
- Familie
- Schwärmer (Sphingidae)
- Gattung
- Macroglossum
- Art
- Taubenschwänzchen (M. stellatarum)
Ähnlich, aber nicht verwandt
Aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit Kolibris werden Sichtungen von Taubenschwänzchen oft fälschlicherweise als Kolibri-Sichtungen gemeldet. Die Ähnlichkeit der beiden Tiere kann auf einen Prozess zurückgeführt werden, der als "konvergente Evolution" bezeichnet wird. Konvergente Evolution liegt vor, wenn sich zwei Organismen, die keinen gemeinsamen Vorfahren haben, in Aussehen und/oder Verhalten ähneln, weil sie sich an eine ähnliche ökologische Nische angepasst haben. Taubenschwänzchen und Kolibris sehen nicht nur ähnlich aus, sondern ernähren sich auch beide von Nektar. Sie saugen mit ihrem langen Rüssel (ein röhrenförmiges Mundstück, vergleichbar mit einer Zunge) bzw. ihrer Zunge Nektar aus einer Blüte, während sie vor ihr in der Luft schweben.
Eingebautes Trinkröhrchen
Das Taubenschwänzchen hat den längsten Rüssel unter den tagaktiven blütenbesuchenden Insekten in Europa. Er ist 2.5 bis 2.8 cm lang, rollt sich aber zusammen, wenn er nicht gebraucht wird. Auch wenn es nach einer für ein Insekt riesigen Zunge klingt, kann die Zunge einer auf Madagaskar vorkommenden Schwärmerart, Xanthopan praedicta, bis zu 28.5 cm lang sein.
Das Taubenschwänzchen und andere Falter aus der Familie der Sphingidae spielen eine entscheidende Rolle bei der Bestäubung vieler Pflanzenarten. Mit ihrem langen Rüssel können sie tief in die Blüten eindringen, um an den Nektar zu gelangen. Dabei nehmen sie unbeabsichtigt Pollen auf ihrem mit Nektar getränkten Rüssel auf, den sie bei den nächsten Blüten beim Nektartrinken übertragen. Je länger ihr Rüssel ist, desto länger kann der Blütensporn sein, und so hat sich in einem koevolutionären Prozess eine bemerkenswerte Vielfalt von Schwärmern mit langen Rüsseln und Blumen mit ähnlich langen Blütenspornen entwickelt.
Schon gewusst?
Der Schmetterling Xanthopan praedicta (praedicta bedeutet auf Latein "vorhergesagt") erhielt seinen Namen, weil seine Existenz von Alfred Russel Wallace und Charles Darwin in den Jahren 1867 bzw. 1862 vorhergesagt wurde, als sie Exemplare einer Sternorchidee mit einem 20–35 cm langen Blütensporn untersuchten. Sie schlossen daraus, dass es ein Insekt mit gleich langem Rüssel geben muss, da die Blüte sonst nicht befruchtet werden könnte. Im Jahr 1903 wurde der prophezeite Schmetterling gefunden und als Unterart des afrikanischen Schwärmers Xanthopan morganii beschrieben. Im Jahr 2021 wurde er als neue Art anerkannt. Obwohl sich der Schmetterling und die Blume gemeinsam entwickelt haben, ist es hauptsächlich die Orchidee, die vollständig auf die Bestäubungsleistung des Falters angewiesen ist. Der Falter kann auch aus anderen Blumen mit langen Blütenspornen Nektar trinken und bestäubt sie dabei.
Schau mir in die Augen
Wie die meisten anderen Insekten haben auch die Taubenschwänzchen Facettenaugen. Sie bestehen aus unzähligen winzigen Einheiten (sogenannte Ommatidien), die in einer Halbkugel angeordnet sind. Auf der Oberfläche des Auges sind diese Einheiten als polygonale Formen, die Facetten, sichtbar. Wenn Sie ein Taubenschwänzchen betrachten, haben Sie vielleicht den Eindruck, dass dessen Augen Ihnen folgen, wohin Sie auch gehen. Der bewegliche dunkle Fleck, den Sie sehen, ist jedoch keine Pupille. Es handelt sich um eine Gruppe von Facetten, die den grössten Teil des Lichts aus Ihrer Richtung absorbiert. Diese Erscheinung wird als Pseudopupille bezeichnet und kann z. B. auch bei den Augen einer Gottesanbeterin beobachtet werden.
Im Gegensatz zu anderen Faltern ist das Taubenschwänzchen tagsüber aktiv und hat daher einige Merkmale entwickelt, die bei anderen Faltern nicht vorkommen. Der vordere Bereich des Auges hat grössere Facetten und mehr Lichtrezeptoren, wodurch der Falter ein scharfes, helles und sehr detailliertes Bild der näheren Umgebung erhält. Diese besondere Augenstruktur ermöglicht es M. stellatarum, sich beim Schweben und Trinken auf die Öffnung einer Blüte zu konzentrieren.
Versierte Navigatoren
Taubenschwänzchen sind hauptsächlich in Südeuropa verbreitet, legen aber im Sommer innerhalb weniger Wochen grosse Entfernungen zurück. Sie wandern in grosser Zahl nach Mittel- und Nordeuropa. Wie einzelne Insekten grosse Entfernungen bewältigen, wurde kürzlich an einer Art aus derselben Familie, dem Totenkopfschwärmer (Acherontia atropos), untersucht. Ein Forscherteam in Deutschland stattete einzelne Falter mit Sendern aus und folgte ihnen in einem Leichtflugzeug, um ihre Bewegungen per GPS aufzuzeichnen. Die Falter waren in der Lage, ihre Flugbahnen über grosse Entfernungen beizubehalten, da sie günstige Winde durch langsames Fliegen in grösseren Höhen ausnutzen und ungünstige Bedingungen durch schnelleres und bodennahes Fliegen ausgleichen konnten. Die Forscher kamen zum Schluss, dass ein interner Kompass den Faltern hilft, ihre Flugbahn unabhängig von den Windverhältnissen beizubehalten. Auch wenn die genauen Einzelheiten ihrer Migrationsmuster noch untersucht werden, sind Schwärmer ein bemerkenswertes Beispiel für kleine Insekten, die grosse Entfernungen zurücklegen können.
Quellen
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Richarz K & Kremer BP. 2019. Gliederfüsser – eine ganz geheimnisvolle Grossmacht. Geniale Tiere. Pp 49-152. http://dx.doi.org/10.1007/978-3-662-58643-3_2